Soziale Arbeit und transprofessionelle Kooperation in einer palliativen Sorgekultur

Ein Impuls von Rainer Krockauer und Manfred Borutta zum 114.Hospizgespräch “Soziale Arbeit und Palliative Care” in Aachen.

Im ersten Impuls versuchen wir, Manfred Borutta und ich, eine Würdigung der transprofessionellen Bedeutung von Sozialer Arbeit in einer palliativen Sorgekultur. Ich beginne zunächst (1.-4.), der Kollege wird dann daran anschließen (5.-7.).

Drei kurze Vorbemerkungen:

(1) Wir beide argumentieren aus der Perspektive verbündeter Fachdisziplinen, der Theologie und der Pflegewissenschaft, und einer entsprechenden professionellen Identität und Felderfahrung als Seelsorger bzw. Altenpfleger.

(2) Der Begriff „transprofessionell“ markiert, dass an hospizlichen Orten Inhalte und Fragen existieren, die die Professionen übergreifend verbinden. Er markiert auch, dass dort gleichzeitig Herausforderungen und Zukunftsfragen benannt werden können, die nicht allein professionsspezifisch zu sehen, sondern in einem transprofessionellen Bündnis zu lösen sind.

(3) Ohne ein intrinsisches Interesse an den Belangen und Fragen der jeweils anderen Professionen geht es im Grunde nicht in einer palliativen Sorgekultur. Die andere Profession ist so wichtig, um des gemeinsamen hospizlichen Auftrags willen, dass auch Interesse aneinander allein nicht genügen wird, wenn nicht wechselseitige Unterstützung durch Feedback und Kritik dazukommt.

Das alles sind Gründe, warum wir uns hier und heute auf die Seite der Sozialen Arbeit schlagen.

(1.) Der prägende Kontext einer palliativen Sorgekultur.

Ich möchte mit einer grundlegenden Erfahrung beginnen, die alle Professionen in einer palliativen Sorgekultur betrifft: Es ist die Tatsache, dass einen dieser spezifische Arbeitskontext nachhaltig, ja zutiefst prägt: Die tagtägliche Begegnung mit Menschen mit lebensverkürzenden Erkrankungen, die Alltäglichkeit des nahen Lebensendes wirken auf einen intensiv ein, die Geschichten und Botschaften der Klientinnen beeinflussen das eigene Selbstverständnis und bekräftigen mit den Jahren eine bestimmte Haltung im Leben, z.B. die Achtsamkeit im Hier und Jetzt.

Christiane zu Salm hat als ambulante Sterbebegleiterin in Berlin Menschen am Lebensende eingeladen, einen Nachruf auf ihr Leben zu verfassen. Die Dokumente, als Buch veröffentlicht, sind Zeugnisse „von ergreifender Echtheit“, zusammenhalten vom Buchtitel: „Dieser Mensch war ich. Nachrufe auf das eigene Leben.“ Die Autorin bekräftigt: Die begleiteten Menschen und deren Nachrufe arbeiten in ihr lange nach, die Begegnungen mit ihnen wirken wie ein „Destillationsvorgang“, in dem „man gedanklich das herauskristallisieren kann, was am Ende eigentlich bleibt. Oben fließt eine große Menge Leben rein, unten tropft das Destillat heraus: die Quintessenz diesen einen abgelaufenen Lebens. Das Wesentliche halt.“

Das dürfte, so vermute ich, auch im Blick auf die Quintessenz des eigenen professionellen Denkens und Handelns gelten. Was sich im hospizlichen Engagement mit der Zeit herauskristallisieren kann, ist ein originäres Profil als Sozialarbeiterin, als Theologe oder Pflegekraft in Palliative Care.

So ähnlich denkt der Sozialpsychologie Harald Welzer. „Nachruf auf mich selbst“, nennt er sein jüngstes Buch. Es ist ein flammender Appell, den Erfahrungen mit Sterben und Tod etwas Entscheidendes zuzutrauen: Nämlich, dass man sich der Quintessenz der eigenen disziplinären Ausrichtung im Angesicht unmittelbarer Endlichkeit bewusst werden kann. Welzer wird u.a. durch die eigene Krisenerfahrung eines Herzinfarktes und dessen glückliches Überleben angetrieben, einen Nachruf auf sich selbst zu verfassen, auf sich als Sozialpsychologe. Er empfiehlt seinen Leser:innen, es schon mitten im beruflichen Engagement mit einem Nachruf auf sich selbst zu versuchen, „darüber, wie sie oder er gelebt zu haben hofft, wenn er noch lebt. … Wer will ich gewesen sein?“

Wer will ich gewesen sein? Eine gute Frage, denke ich mir, auch für uns: Wer will ich als Sozialarbeiterin, als Theologe, Ärztin oder Pflegekraft in einer palliativen Sorgekultur gewesen sein?

2. Kooperativ agieren, komplementär denken, dialogisch vorgehen

Was ist mein originäres Profil? Eine gute Frage, vielleicht besonders für die Soziale Arbeit. Ist sie doch, die „vielleicht am meisten unterschätzte Profession in der Palliativversorgung“, so der Palliativmediziner Gian Domenico Borasio. Von Beginn an ist sie ein unverzichtbarer Bestandteil von Palliative Care. Sie hat auch viel erreicht, „als Perspektive ist aber (so ergänzt die Münchener Kollegin Maria Wasner) eine deutliche inhaltliche und strukturelle Schärfung des spezifischen Profils durchaus möglich und an vielen Stellen auch nötig“. Es gehe um Selbstbewusstsein und Profilstärkung, aber auch um das Bewusstsein für ein verbindendes Profil aller palliativen Professionen.

Mir scheint das wichtig zu sein: Es gibt viel mehr, was uns verbindet, als was uns trennt. Das hängt mit drei Bedingungen zusammen, die in meinen Augen professionelles Arbeiten von allen in einer palliativen Sorgekultur betreffen:

1: Es gilt dort eine unbedingte, ja radikale Betroffenenorientierung. Sie bringt zwangsläufig eine entsprechende Priorisierung der eigenen Fachinhalte mit sich. Das heißt: Nicht was in der eigenen Fachdisziplin angesagt ist, gilt und zählt in erster Linie, sondern was die betroffenen Personen fragen und suchen.

2: Die gebotene interprofessionelle Kooperation hält einem tagtäglich die Inhalte der anderen Professionen vor Augen, um sich von der eigenen Fachdisziplin dazu zu verhalten. Interdisziplinäre Kompetenzen sind gewissermaßen Grundbedingungen für jeden, um im Spiel zu bleiben.

3: Hinzu kommt drittens: Die Hospiz-Gäste drängen jeden Engagierten unmittelbar mit Ihrer Authentizität, mit dem, was man persönlich, inhaltlich und methodisch zu bieten hat, ohne Umschweife auf den Punkt zu kommen.

Was verbindet vor diesem Hintergrund alle Professionen in einer palliativen Sorgekultur miteinander? Ich würde es so formulieren: Es gilt für alle: Kooperativ statt solitär zu agieren! Komplementär statt exklusiv zu denken! Dialogisch statt monologisch vorzugehen! Kooperativ agieren! Warum? Um gemeinsam etwas zu schaffen, was man alleine nicht schaffen könnte. Komplementär denken! Um die eigenen Inhalte ergänzend, bereichernd auf die der anderen zu beziehen. Dialogisch vorgehen! Um sich mit der eigenen Professionalität nicht zu verstecken, sondern sie der lebendigen Begegnung auszusetzen.

Bei allem Verbindenden: Was könnte ein spezifisches, eigenes Profil der Sozialen Arbeit sein?

3. Soziale Arbeit als Wegbereiterin für transprofessionelle Kommunikation.

In ihrem einschlägigen Handbuch „Soziale Arbeit in Palliative Care“ betont Maria Wasner zu Recht, dass deren Bedeutung bis heute zu wenig wahrgenommen werde. „Zum Teil mag das daran liegen, dass in Deutschland keinerlei rechtliche Vorgaben für die Anwesenheit und strukturelle Einbindung von Sozialarbeitern auf Palliativstationen oder in stationären Hospizen existieren, zum anderen daran, dass Qualitätskriterien für diese Tätigkeit fehlen.“ Ist die Einschätzung zutreffend? Und gilt die von Borasio geäußerte Auffassung weiter, Soziale Arbeit werde oft nur „als ‚Anhängsel‘ im Rahmen der von den Leistungsträgern etwas despektierlich betrachteten psychosozialen Versorgung am Lebensende angesehen. Dabei ist sie ein wesentlicher … ein Ansatz zur Verbesserung der Lebensqualität von lebensbedrohlich erkrankten Patienten und ihren Angehörigen, unter Einbeziehung physischer, psychosozialer und spiritueller Aspekte.“

Borasio unterstreicht hier zu Recht ihre transdisziplinäre Kompetenz als ein besonderes Qualitätsmerkmal. Vielleicht sollte man sogar weitergehen und sie als mögliche Wegbereiterin verstehen, um die zwischen den Professionen und Disziplinen verhandelten Themen und Fragen aufzusammeln, an die anderen heranzutragen und eine Verständigung darüber anzuregen, also Vermittlerin in der Kooperation und Kommunikation zwischen den Professionen zu sein. Oder anders gesagt: Ist sie durch ihr generalistisches Selbstverständnis und durch ihre integrierende Rezeption unterschiedlicher Bezugswissenschaften nicht geradezu dafür prädestiniert, transdisziplinär relevante Themen, Fragen oder Probleme stellvertretend für die anderen zu benennen, z.B. drängende gesellschaftspolitische Fragen. Damit sind wir bei einem zweiten möglichen Profilpunkt.

4. Soziale Arbeit als gesellschaftspolitische Anwältin

Andreas Heller und Reimer Gronemeyer haben jüngst für „die gesellschaftspolitische Reorientierung der Hospizbewegung“ plädiert. Die Hospizidee brauche neu politische Anwaltschaft. Ein Impuls, den wir besonders vor dem Hintergrund der außergewöhnlichen Erfahrungen mit der Corona-Pandemie hören können. Er erreicht uns aber auch deswegen, weil das letzte Jahr durch seine einschneidenden globalen Krisen „weltweit hospizliches Handeln“ provoziert habe. Es gehe mehr denn je lokal wie global um den gelingenden „Übergang … zu einer lebensfreundlichen, sorgenden Gesellschaft und Welt. Die Hospizbewegung stehe, so die beiden, „heute vor der Frage, ob sie Teil dieses Wandels sein will oder eine gut finanzierte Abteilung des Gesundheitsapparates, der schon jetzt vor unseren Augen von seinen Krisen zerfressen wird.“

Der Impuls erreicht eine politisch wache Theologie und Pflegewissenschaft genauso wie Soziale Arbeit als „Gerechtigkeitsdisziplin“, den Wandel hin zu einer solidarischen, sorgenden Gesellschaft entschlossen voranzutreiben, noch stärker verbunden mit einer vorrangigen Option für die vulnerablen und übersehenen Menschen im Gesundheitssystem, z.B. die Pflegebedürftigen und Sterbenden. Angesichts beispielsweise einer weitreichenden Ökonomisierung des Gesundheitssektors ist, da stimme ich den beiden Kollegen zu, ein neuer hospizlicher Aufbruch angesagt: „Eine Hospizbewegung wird gebraucht, die ihren Austritt aus der Zone des Mehr, Teurer, Zentralisierter, Zertifizierter ins Auge fasst.“

Soziale Arbeit als politische Anwältin für Solidarität statt Systemrelevanz ist in der Tat gefragt. „Wir alle (sind) als Akteurinnen zur Solidarität herausgefordert“, heißt es im Positionspapier der Kollegin Susanne Kiepke-Ziemes u.a., in dem treffend „die Versorgung von sterbenden Personen in Corona-Zeiten „auf den Prüfstand“ gestellt wird. Und in der Tat: Ein guter Einstieg in eine gesellschaftspolitische Reorientierung könnte die schonungslose Analyse der Geschichten von „Sterbebegleitung zu Zeiten der Pandemie“ sein. „Ein ethisches Desaster“, hat es jüngst eine Absolventin in ihrer Master-Thesis formuliert. Auf die Frage im Prüfungskolloquium, was in ihren Augen den Begriff des ethischen Desasters rechtfertige, antwortete sie, selbst als Sozialarbeiterin in Palliative Care tätig: Es seien die Geschichten vom Sterben ohne Angehörige und ohne Begleitung in den harten Phasen des Lockdowns, die ihr bis heute bis in den Schlaf nachgingen.

Was ich am Ende meines Teils sagen will: Was Corona bewirkt hat und bewirkt, ist die tiefgreifende Sensibilisierung dafür, wie kostbar eine palliative Sorgekultur ist, und dass sie alles andere als selbstverständlich ist, und dass für sie heute und morgen in der Gesellschaft entschlossen gekämpft werden muss. Ein Auftrag, allen voran für die Soziale Arbeit!

(5) Radikale Betroffenenorientierung!

Warum ‚radikale Betroffenenorientierung‘ im transprofessionellen Kontext?

Multiprofessionalität reicht in der palliativen Sorgearbeit nicht aus. Warum?

  • Multiprofessionalität bedeutet vereinzeltes und nicht abgestimmtes Handeln („Viele Köche, die den Brei rühren…und ihn beizeiten verderben“)

Interprofessionalität geht schon weiter:

  • Verschiedene Professionen bearbeiten den gleichen Fall mit ihren jeweiligen Perspektiven und erstellen eine gemeinsame Handlungssynthese (bei der die je eigenen Perspektiven aber nicht verändern werden müssen)

Transprofessionalität geht noch einen kleinen Schritt weiter:

  • Verschiedene Professionen bearbeiten den gleichen Fall und entwickeln im gemeinsamen Arbeiten neue Perspektiven auf den Fall.

Transprofessionalität verlangt in einer radikalen Betroffenenorientierung einen unabdingbaren Perspektivwechsel:

  • Es geht nicht (mehr) um die möglichst weitgehende Verwirklichung der eigenen Autonomie der Profession (eine ohnehin überaltertes – ‚theorie-abstinentes‘, statusorientiertes Professionsverständnis)
  • Es geht vielmehr um die Wahrung der Autonomie des Klienten!
    • Die Freiheit der Entscheidung des Klienten gehorcht eben keiner pflegerischen, medizinischen oder sozialarbeiterischer Vernunft.
  • Die Handlungsweisen aller Professionellen sind im transprofessionellen Kontext auf die subjektive Betroffenheit des Klienten gerichtet.
    • Er hat die Schmerzen….
  • Es geht also nicht um die selbstbezügliche Erfüllung irgendeines Mandats…
  • Vielmehr geht es darum, das eigene Wissen kritisch zu betrachten im Hinblick darauf, wie weit es im konkreten Fall helfen oder nicht mehr kann.
  • Abwandlung von zwei Zitaten (Simon u. Roth):
    • (Disziplinäres) „Wissen kann lernbehindert machen..“ (F.B. Simon)
    • „Es ist erstaunlich, was wir nicht wissen. Noch erstaunlicher ist, was wir (innerhalb unserer eigenen Disziplin) als Wissen bezeichnen.“ (P. Roth)

(6) Verantwortung für Transprofessionalität!

Transprofessionalität bedeutet

  1. die temporäre Aufhebung eigener disziplinärer Grenzen
  2. unterschiedliche Professionen bearbeiten den gleichen Fall und generieren dabei ein neues (emergentes) Fallverständnis und neue Handlungskompetenzen.

Das ist hochgradig voraussetzungsvoll!

  • Organisatorische Voraussetzungen
  • Individuelle Voraussetzungen der Akteure
  • Interpersonale Voraussetzungen

Was es demzufolge zu vermeiden gilt, sind professionelle Parallelgesellschaften

Wer moderieren oder gar steuern möchte, braucht hierzu eine Legitimation der jeweils Anderen!

Und er/sie muss kommunikativ anschlussfähig sein. D.h.,

  • Man muss verstehen, wie die Anderen „ticken“
  • Was ist ihnen wichtig?
  • Mit welchen Programmen (Methoden) arbeiten sie vorrangig?
  • Was ist ihr disziplinäres Grundverständnis (primäre Leitdifferenz)

(7) Anwaltschaft für Solidarität!

Warum geht es nicht ohne Solidarität?

Ausgangspunkt: Das Gerede über ‚Systemrelevanz‘ einzelner Berufsgruppen, Professionen in der Pandemie… (Mertens / Borutta)

  • Die Beanspruchung von Systemrelevanz führt weg von der radikalen Betroffenorientierung
  • …und es führt weg von einem transprofessionellen Verständnis in der Arbeit mit Klienten
  • Die Beanspruchung von Systemrelevanz verweist auf Distinktionsbemühungen (Abgrenzungsbemühung), wie sie bereits der Psychoanalytiker Horst Eberhard Richter 1998 in der Analyse der Spaltungen innerhalb der sozialen Berufe herausgearbeitet und beschrieben hat.
  • Bei der Beanspruchung von Systemrelevanz geht es nicht um die Sorge und das Wohlergehen der anvertrauten Klienten…
  • …es geht vielmehr um die Sorge um den eigenen Status!
  • …und um die Angst nicht hinreichend wahrgenommen zu werden.
  • Die Selbstzuschreibung einer Systemrelevanz hebt auf Ungleichheit ab, auf Differenz…
    • …auch dort, wo es existenziell um Solidarität gehen sollte, weil es um existenzielle Fragen und um existenzielle Erfahrungen am Lebensende geht.
  • Das Pochen auf Systemrelevanz läuft einem transprofesionellen Verständnis zuwider.
    • Solidarität verweist auf Verbundenheit trotz Ungleichheit! (vgl. H.E. Richter; vgl. Rainer Zoll)
  • Der Zustand der Solidarität sagt viel über den Zustand einer Gesellschaft aus….nicht nur in pandemischen Zeiten.
  • Die Selbstzuschreibungsbemühungen (‚wie sind systemrelevant‘) sagen viel über den Zustand einer Profession aus.

Fazit:

  1. ‚Radikale Betroffenorientierung‘ braucht transprofessionelle Solidarität
  2. …braucht die Bereitschaft und Anschlussfähigkeit zu den Perspektiven anderer beteilitgter Professionen
  3. …und in dieser Anschlussfähigkeit zu anderen Professionen:
    1. Neugier auf diese Perspektiven der Anderen
    1. ein gewisses Maß an Bescheidenheit in Bezug auf die eigenen Perspektiven…

Denn: „Der Andere könnte Recht haben“ (Hans-Georg Gardamer)

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