Systemrelevanz oder Solidarität?

Seit geraumer Zeit sehe ich mich in meinem sozialen Umfeld Menschen gegenüber, die mir ihre Meinungen zur Covid-19-Pandemie unbedingt mitteilen möchten. Da ist zum Beispiel die Pädagogin, die Grundschüler als Denunzianten von morgen bezeichnet, weil sie sich gegenseitig an die Maskenpflicht erinnern. Sie befürchtet eine Diktatur, wofür es durch den Einsatz von Bundeswehrangehörigen in den Gesundheitsämtern ja bereits Hinweise gäbe. Dann der Akademiker, der ein Video empfiehlt, in dem ein „renommierter“ Mediziner die Pandemie mal eben mit einer normalen Grippe vergleicht. Die für die Kamera drapierten Buchdeckel seiner selbst verfassten Bücher unterstreichen die Erhabenheit des Renommierten. „Man merkt die Absicht, und ist verstimmt.“ (Goethe)

Vor  einigen Wochen ist der erste Mensch in meinem Umfeld an den Folgen einer Covid-19-Infektion verstorben. Täglich sterben derzeit mehr als 1.000 Menschen an oder mit dem SARS-CoV-2-Virus. Jeden Tag mehr Opfer als bei einem Flugzeugabsturz.

Bis vor einem Jahr wussten wir nicht allzu viel über Pandemien. Dem Nichtwissen folgten schon bald erste Verschwörungsmythen, die in die Lücke, die das Wissen offenbarte, hineinstießen. Hier von Theorien zu sprechen wertet diese mythischen Erzählungen zu Unrecht auf. Theorien helfen uns in einer komplexen Welt zu ordnen, zu begründen und vor allem zu verstehen. Und sie halten den Zweifel in uns wach. Mythen und Ideologien tun dies nicht. Sie suchen ausschließlich nach Bestätigung der eigenen Sichtweisen. „Wir glauben nur was wir sehen. Leider sehen wir nur was wir glauben“ sagte der Sozialwissenschaftler Peter Atteslander.

Gesundheit ist ein stilles Grundrecht, dass wir stets als selbstverständlich für uns betrachtet haben. Krank werden die Schwachen, Sterben tun die Alten. Wir haben uns daran gewöhnt, Krankheit zu vereinzeln und uns davon gleichermaßen zu distanzieren. Wer besucht schon gerne pflegebedürftige Menschen, wenn es nicht gerade die eigenen Eltern oder Großeltern sind?

Und jetzt dies: Krankheit und Tod betreffen nicht mehr nur die Einzelnen. Zunehmend kann es jede und jeden treffen. Dazu zählen auch vormals kerngesunde Menschen. Gesundheit ist nun nicht mehr selbstverständlich, sondern wir alle müssen gemeinsam etwas für dieses Grundrecht tun. Dieser Einsatz kostet uns etwas, nicht nur in finanzieller Hinsicht. Er verlangt von uns den Zusammenhalt aller, wirklich aller; damit wir halbwegs gesund durch diese Pandemie kommen und dabei die Pflegekräfte und Ärzte nicht weiter überlastet werden. Wöchentlich erklären sich immer mehr Branchen und Berufsgruppen als systemrelevant und das Unverständnis darüber, was damit gemeint ist, wächst von Tag zu Tag. Die Beanspruchung von Systemrelevanz – nicht zuletzt auch durch die Soziale Arbeit (vgl. u.a. Wagner 2020) – verweist auf Distinktionsbemühungen, wie sie bereits der Psychoanalytiker Horst Eberhard Richter 1998 in der Analyse von Spaltungen innerhalb der sozialen Berufe, beschrieben hat. Diese Spaltungstendenzen gehen einher mit der „… Sorge um den eigenen sozialen Status“ (Richter), aber nicht mit der Sorge um Menschen, die ihre Unterstützung und Hilfe bedürfen. Die Selbstzuschreibungsverrenkungen der Systemrelevanz, die per se auf Ungleichheit abhebt, sagen viel über den Zustand einer Profession aus. In der Pandemie geht es jedoch nicht um Systemrelevanz. Es geht um Solidarität. Diese Solidarität verweist auf Verbundenheit trotz Ungleichheit. Und der Zustand der Solidarität sagt viel über den Zustand einer Gesellschaft aus. Wir alle können uns aktuell dabei beobachten, ob und wie solidarisch wir miteinander sind.

Die Pädagogin fragte mich, ob ich denn schon Mal einen „Corona-Toten“ gesehen hätte. Ich bin Altenpfleger und habe mehr als zehn Jahre sterbenskranke Menschen auf ihrem letzten Weg begleitet. Also frage ich sie, ob sie denn schon Mal einen an Herzkreislaufversagen, an Krebs oder Lungenentzündung verstorbenen Menschen gesehen habe. Nach ihrer Logik des egozentrischen Sehens darf es diese todbringenden Krankheiten auch nicht geben.

Mich macht das traurig und wütend zugleich. Ich weiß um die Brutalität der täglichen Konfrontation mit Covid-19-Patienten in den Kliniken und Altenheimen. Ich weiß darum, wie meine ehemaligen Kolleginnen und Kollegen in der Pflege sich selbst und ihre Familien der Gefahr einer todbringenden Seuche aussetzen, um Leben zu retten. In einer Aachener Tageszeitung hatte die Intensivpflegerin, Pia Sliwinski Anfang Dezember 2020 über ihre täglichen Kampf gegen das Virus geschrieben. Und darüber, wie sie mit ihren Kolleginnen und Kollegen in der Pflege um jedes einzelne Leben kämpfen. Sie berichtet davon, wie höhnisch es für sie und ihre Kolleginnen klingt, wenn Menschen, die noch nie auf einer Intensivstation gewesen sind, das Virus nicht ernst nehmen und wenn sie dann behaupten, sie wüssten besser Bescheid als die mehr als 1,7 Millionen Pflegekräfte und die über 400.000 Mediziner in unserem Land. Pia Sliwinski hat mir aus der  Seele gesprochen. Und ich ziehe den Hut vor ihr und ihren Kolleginnen und Kollegen.

Das Bittere: Viele von ihnen werden die viel zitierte Coronaprämie nicht erhalten; weil sie zum Beispiel – wie in einem Krankenhaus im Ruhrgebiet – niederländische statt deutsche Covid-19-Patienten gepflegt haben

Parallel dazu werden genau diejenigen, die über Jahre mit politischem Eifer, die Pflege ökonomisiert, den Stellenabbau von Fachkräften vorangetrieben und somit die Gewinne von Pflegegroßkonzernen maximiert haben, nun nach einem leistungsfähigeren Gesundheitssystem schreien. Das ist zynisch! Der Pflegeberuf ist jahrzehntelang politisch diskreditiert und offensiv vernachlässigt worden. Wenn wir etwas lernen können aus dieser Pandemie, dann dies: Es wird höchste Zeit, dass wir Menschen wie Pia Silwinski zuhören.

Bild/Quelle: Matthew Waring/unsplash

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